Aerodynamiker wie Dr. Kentaro Zens drücken die Ersparnis mit dem Batterie-Äquivalent gerne auch direkt in Euro aus: Jeder gewonnene Meter lässt sich unmittelbar in die Kosten umrechnen, die in eine größere Batterie investiert werden müssten, um dieselbe Reichweitensteigerung zu erreichen. Natürlich könnte Kentaro auch auf konventionellem Weg mehr Windschlüpfrigkeit aus einem Auto herauskitzeln. Dafür bräuchte er lediglich Modelle, Prototypen und ungefähr 1.000 Stunden Zeit im Windkanal. Oder aber sein Team und er greifen auf moderne Open-Source- Software und die Leistungsfähigkeit von 25.000 Audi-Rechenkernen zurück, und reduzieren damit die teure Testzeit mit echter Hardware auf wenige Hundert Stunden.
Reichweite ist eine der wichtigsten Kennzahlen von Elektroautomobilen. Anders als bei Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor wirkt sich der Luftwiderstand eines E-Autos viel unmittelbarer auf seine Reichweite aus als beispielsweise das Gewicht: Jedes Tausendstel, das ein Hersteller am cw-Wert – das Maß für den Strömungswiderstand eines Körpers – einspart, ist gleichbedeutend mit 800 Metern zusätzlicher Reichweite.
Strömungsmessung am Computer
„Wir rechnen die Strömung sozusagen rückwärts“, erklärt Kentaro das Vorgehen bei der prototypenfreien Aerodynamikentwicklung. „Wie würde der cw-Wert sinken, wenn ich die Luft anders strömen lassen würde?“ – ausgehend von dieser Frage lassen sich die PSW-Aerodynamiker vom Computer eine Art virtuelle Landkarte der Fahrzeugoberfläche erstellen, die ihnen genau aufzeigt, wo und wie die Karosserie verformt werden muss, um die gewünschte Strömung mit möglichst wenigen Ablösungen zu erreichen.
Millimeter für Millimeter arbeitet sich das Team dann am Auto entlang: Während viele Details der Fahrzeugfront durch das Markendesign und verwendete Standardteile bereits vorgegeben sind, bietet beispielsweise der Kühler großes Potenzial für aerodynamische Verbesserungen. Beim Verbrenner strömt die Luft diffus durch den Motorraum. Das bremst. Beim Elektrofahrzeug hingegen ist die Luftdurchführung strikt mit Kanälen vorgegeben, was sich sehr vorteilhaft auf den Luftwiderstand auswirkt. Der grundsätzlich geringere Kühlbedarf eines Elektroantriebs erlaubt es außerdem, den Lufteinlass zeitweise komplett zu verschließen: Klappen im Kühler können jegliches Einströmen von Luft verhindern und verbessern den Luftwiderstand des Fahrzeugs um bis zu zehn Prozent.
Kentaro und sein Team optimieren außerdem die Fahrzeugform und vor allem die Details wie Außenspiegel und Räder bis hin zu Spoilern und Rückleuchten. Nicht einmal die Fahrzeugunterseite ist vor den Aerodynamik-Spezialisten sicher: Ohne die Zerklüftungen eines Verbrennungsmotors liegt das E-Fahrzeug mit seinem nahezu glatten Unterboden sehr viel schnittiger in der Strömung. Jede Ecke, jede Kante, jeder Millimeter eines Fahrzeugs kann sich auf die Aerodynamik auswirken und wird deshalb untersucht, hinterfragt und gegebenenfalls umgestaltet. Dabei muss Kentaro jede einzelne Modifikation immer im Gesamtkontext betrachten. Da sind schnell mal 200 Arbeitsstunden investiert, um beispielsweise die Beeinträchtigungen des cw- Werts durch den Außenspiegel von acht auf sechs Tausendstel zu verbessern. Es ist ein interessantes Knobelspiel mit vielen Variablen, das die PSW-Strömungsexperten Tag für Tag aufs Neue lösen. Weil Kentaros Arbeit viele weitere Teilbereiche der Fahrzeugentwicklung streift, ist seine Abteilung freilich auch intern bei PSW ausgezeichnet vernetzt: An Heckspoilern tüfteln die Aerodynamiker beispielsweise im Team mit Konzeptentwicklern und Kinematikexperten. Über Stoßfänger fachsimpeln sie gemeinsam mit Karosseriespezialisten. Für das optimale Ergebnis ist diese bereichsübergreifende Zusammenarbeit fast genauso wichtig wie das große Fachwissen, die immense Erfahrung und nicht zuletzt das Hochleistungsrechen-Cluster von Audi.
Komplexe Aufgaben, quelloffene Software
Der wohl größte Vorteil, aerodynamische Messungen auf Basis von Simulationen statt wie sonst üblich mi Prototypen oder Modellen im Maßstab 1:4 durchzuführen: Kentaro kann seine Arbeit bereits in einer sehr frühen Designphase aufnehmen. Alles, was er braucht, ist ein 3-D-Modell des Fahrzeugs, das er mit seinen Kollegen in 100 Millionen kleine Volumen-Würfelchen zerlegt, bevor die Open-Source-Software OpenFOAM an jedem Knotenpunkt Strömungsgleichungen berechnet. Früher hat allein die Datenaufbereitung dafür zwei Wochen gedauert – ein immenser Zeitaufwand, der bei jeder Modelliteration aufs Neue anfiel. Mit zunehmender Erfahrung und sehr viel Automatisierung konnten Kentaro und sein Team die benötige Zeit um mehr als zwei Drittel senken. Der dynamische Entwicklungsprozess ermöglicht eng getaktete Überarbeitungsschleifen und spart den PSW-Kunden am Ende ein weiteres Mal viel Zeit und Geld.
Wohin die Reise geht
Anhand der Entwicklung eines kommenden Elektrosportwagens hat PSW seine Kompetenzen in der prototypenfreien Aerodynamikentwicklung stark ausgebaut. Die Zwischenergebnisse
und Prognosen sind derart vielversprechend, dass bei Kentaro und seinen Kollegen bereits fleißig an der Zukunft gearbeitet wird: Künftig wird wahrscheinlich auch die Aeroakustik eines Fahrzeugs – also die Geräuschentwicklung durch
Fahrtwind – mit Computerunterstützung simuliert und optimiert. Ein hochgradig komplexes Thema, zu dem Sie im Infokasten „Viel Aufwand um wenig Geräusch – so komplex ist Aeroakustik“ weitere Details erfahren. Auch die Veränderung der Simulationsparameter vom Standard-Testfall „Wind kommt direkt von vorne“ hin zum auf der Straße sehr viel realistischeren „Wind kommt von der Seite oder von schräg vorne“ wird aktuell bei PSW genauestens beleuchtet.
Jedes Auto braucht eine Karosserie – und wer die aerodynamisch optimiert, bekommt Reichweite quasi zum Nulltarif!
Deep Learning und neuronale Netze könnten in der Fahrzeugentwicklung von morgen ebenfalls eine große Rolle spielen – auch wenn Kentaro vor der Gefahr warnt, dass ein vom Computer aerodynamisch optimiertes Fahrzeug optisch womöglich stark an Charakter einbüßt. Das Aussehen eines Fahrzeugs darf nicht um jeden Preis seiner Aerodynamik geopfert werden. Aus diesem Grund arbeitet die PSW-Aerodynamikabteilung Hand in Hand mit den Designern: Nicht nur einmal saß Kentaro in der Vergangenheit schon mit einem Heckleuchtengestalter im Windkanal und schliff mit ihm so lange an der perfekten Strömungsabrisskante, bis alle Beteiligten sowohl in optischer als auch in strömungsmechanischer Hinsicht zufrieden waren.
Mehr als nur heiße Luft
Wer sich mit Dr. Zens unterhält, spürt schnell, wie sehr er für sein Thema und die Abwechslung
brennt, die prototypenfreie Aerodynamikentwicklung in seinen beruflichen Alltag bringt. So wird er wohl auch in Zukunft viel Zeit mit Designern über die perfekte Linie fachsimpeln und den PSW-Kunden begeistert von den Vorzügen der aerodynamischen Reichweitensteigerung vorschwärmen. Die kostet am Ende dann zwar doch auch Zeit und Geld – nur dank der fortschrittlichen Simulationen von Kentaros Abteilung eben deutlich weniger als bisher.